Zwischen Geschichte und Gegenwart: Ein Fachvortrag zum Nahostkonflikt an unserem Gymnasium
Am Montag, 13. November 2023, hatten wir einen besonderen Gast an unserem Haus.
Am Nachmittag luden wir Herr Dr. Anton Hieke, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Martin-Luther-Universität Halle am Lehrstuhl für Judaistik / Jüdische Studien, zu einem Vortrag mit anschließender Frage- und Diskussionsrunde ein.
Die Initiative kam aus unserem Schülerrat, dessen Vorsitzende Vanessa Hertel den Kontakt herstellte und die Gesamtorganisation übernahm. In einer kurzweiligen und ansprechenden Einführung begrüßte sie im Namen des Schülerrates und der Schulgemeinschaft unseren Gast. Der Nachmittag fand inhaltlich im Kontext des 9. November statt – dem Tag der Reichspogromnacht im Jahre 1938, die sich zum 85. Mal jährte.
Auch in diesem Jahr gab es an unserem Gymnasium an diesem Tag Gedenkveranstaltungen an den beiden Stolpersteinen, die unsere Schule gestiftet hat, sowie ein vielfältiges Programm, um jüdische Kultur sichtbar zu machen und Vorurteile abzubauen.
In Absprache im Schülerrat war es Vanessa, dem Schülerrat und uns allen ein Anliegen, aufgrund der derzeit eskalierten Situation in Israel, dem Gazastreifen und dem Westjordanland das Thema für uns alle inhaltlich zu fundieren, um gemeinsam Ansätze zu finden diesen Konflikt sachlich zu verstehen und darüber ins Gespräch zu kommen. Diesen Ansatz machte Herr Dr. Hieke gleich zu Beginn seiner Ausführungen zunichte: „Wenn Sie hier heute Abend rausgehen und sagen, aufgrund des Vortrages habe ich nun alles verstanden, habe ich etwas falsch gemacht“. Dieses Zitat zeigt die Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Konflikts und lässt erahnen, wie kompliziert und weit entfernt eine friedliche Lösung in naher Zukunft erscheint.
Um sich der Thematik zu nähern, begann Herr Dr. Hieke mit einem historischen Abriss über die Entwicklungen zur Entstehung des Staates Israel und den damit verbundenen Ideen, Plänen und Entscheidungen. Thema dabei waren auch die diversen kriegerischen Auseinandersetzungen in und um Israel, die bei dem aktuellen Geschehen zumindest offensichtlich keine Rolle spielen, für das Erklären des Handelns dieses Staates im aktuell schwelenden Konflikt aber unbedingt zu Rate genommen werden müssen. „In der heutigen öffentlichen Berichterstattung wirkt es immer so: das große und militärisch starke und klar überlegene Israel gegen den kleinen Gaza- Streifen bzw. das Westjordanland“ führte Herr Dr. Hieke aus. „Wenn man den Blick aber in die Geschichte der Mitte des 20. Jahrhunderts macht, kehrt sich die Situation um: das kleine Israel gegen einen Großteil der arabischen Welt mit rund 500 Mio. Menschen“. Uns wurde seinen Ausführungen folgend allen klar, wie multipel der Interessenkonflikt der Region ist, und dass der gerne zitierte religiöse Ursprung der Auseinandersetzung dort eigentlich keine wirkliche Rolle spielt.
Herr Dr. Hieke klärt auch über die Hamas auf: Die Hamas steht nicht für „die“ Palästinenser; diese hätte sich im Gaza- Streifen die Macht gewaltvoll angeeignet. „Wären die Palästinenser- Gebiete geografisch nicht getrennt, hätte es wohl dort schon einen Bürgerkrieg zwischen der Hamas und der Fatah gegeben“, führt er aus. Während die Terrororganisation Hamas den Gaza-Streifen beherrscht, kontrolliert die gemäßigte Fatah unter Präsident Abbas das Westjordanland. Die Fatah hatte dem Terrorismus als politisches Mittel unter ihrem ehemaligen Führer Jassir Arafat abgeschworen. Beide Organisationen, Hamas und Fatah, hätten zwar seit geraumer Zeit ein Versöhnungsabkommen zur gemeinsamen Regierung über die Palästinenser- Gebiete; dazu ist es aber bisher nicht gekommen.
Einig waren und sind wir uns alle: Gewalt und Terrorismus dürfen keine Lösung sein. Das Leid und die Not der Menschen auf beiden Seiten ist unerträglich und sollte Anlass genug sein, das sinnlose Morden zu beenden und einen friedlichen Kompromiss zu finden. Aber auch den Zuhörern war und ist nicht ganz klar, wie der aussehen könnte. Zum historischen Konflikt kommen heutzutage auch aktuelle Entwicklungen dazu: Herr Dr. Hieke verwies darauf, dass wir - auch in Europa - eine Zunahme an Nationalismus, rechtsradikalen und antisemitische sowie antiislamischen Tendenzen verzeichnen. Man müsse sich nur mal die Wahlerfolge der politischen Rechten in Italien, Frankreich, Polen oder auch in Deutschland anschauen. Selbst in Israel hätte man in der Regierung und dem Parlament, welches aus vielen Parteien zusammengesetzt ist, viele radikal denkende Politiker. Dort sind Parteien vertreten, die für ein „Großisrael“ einstehen und das auch politisch kommunizieren. Auch in unserer Gesellschaft haben wir Tendenzen, die schwer nachvollziehbar sind: Menschen anderer Meinung und anderer Glaubensrichtungen werden beleidigt und tätlich angegriffen, anstatt miteinander ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen, und zu versuchen die andere Perspektive zu verstehen. Als Problem wird auch die Art des Konsums von Informationen in der heutigen Zeit ausgemacht: Soziale Medien spielen dabei eine äußerst problematische Rolle. Sie schüren mitunter einseitig und stark tendenziös Emotionen. „Dieser Konflikt ist vor allem ein emotionaler. Von daher arbeiten beide Seiten auch vor allem mit Bildern, die so brutal wie möglich sein müssen, und so weit und so öffentlich wie möglich verbreitet werden sollen“, führt Dr. Hieke aus.
Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung gibt er dennoch nicht auf; die gaben und geben alle Anwesenden nicht auf. Für uns liegt der Schlüssel für die Lösung eines solchen Konfliktes im gemeinsamen Austausch, im Leben von Toleranz, in der Wertschätzung von Vielfalt und der Akzeptanz von anderen Meinungen, Ansichten und religiösen Überzeugungen.
Wenn dieser Nachmittag mit dem Vortrag und dem folgenden Austausch also nicht dazu geführt hat den Konflikt tatsächlich im Grunde komplett zu verstehen, dann doch dazu, seine Sinne genau dafür zu schärfen.
Vielen Dank an unseren Schülerrat und Herrn Dr. Hieke.
M. Huppertz